So war das Reeperbahn Festival 2020

Schuhe an, Hut auf, zur Tür raus, zur U3. Maske auf, in die mittelgefüllte U-Bahn steigen, ein paar Stationen später in St. Pauli wieder raus. Mit dem QR-Code einchecken, Hände desinfizieren, Bändchen zeigen, zum zugewiesenen Platz gehen. Am vierten und letzten Tag des Reeperbahn Festivals 2020 bin ich routiniert, denke ich mir, als ich mit einer Limo die Band Blond anschaue.

Dafür, dass hier nicht getanzt werden darf, schafft es die Formation wirklich Stimmung aufzubauen. Zwar sieht das mit den Klappstühlen immer noch nach einer schrägen, hipperen Version vom Fernsehgarten aus, aber trotzdem: Kostümwechsel, Pantomime-Künstler, Mitklatschparts, der exzellente Song „Sanifair-Millionär“ – das macht schon großen Spaß, auch wenn alle sitzen bleiben sollen.

Pop aus den Niederlanden und die ungewollte Parallelveranstaltung

Im Anschluss wähle ich das Kontrastprogramm und möchte Singer-Songwriter-Pop aus den Niederlanden hören. Während mir auf dem Weg über den Spielbudenplatz zum N-JOY Reeperbus noch von den Getränkeständen „I Feel It Coming“ von The Weeknd und „Karma Chameleon“ von Culture Club entgegenplärrt, erlebe ich am Ende meines kurzen Weges hier ein weiteres schönes Konzert: Eefje De Visser ist mit zwei Mitmusikerinnen da, sie begeistert mit ihrer unaufgeregten Musik das Publikum vor dem Bus und mich.

Weiter geht’s. Bei meinem Streifzug rund um die Reeperbahn fällt mir die seit gestern noch gewachsene „Parallelveranstaltung“ auf – also die Leute, die sich auf die Mauer des Begrünungsstreifens auf der Reeperbahn oder alle anderen möglichen Erhebungen in der Nähe des Panoptikums stellen, um über die Sichtschutzzäune hinweg zu schauen. Ob das daran liegt, dass sie nicht reingekommen sind oder sie nicht bereit waren, Geld für ein Ticket auszugeben, ist unklar. Fest steht allerdings: Hier ist keine Security, die auf Sicherheitsabstände untereinander hinweisen könnte und sollte. Auch wenn die Zaungäste sehr friedlich sind.

Immer noch die Musik

Später schaue ich mir auf der Festival Village Stage erneut Niels Frevert an, heute mal mit voller Bandbesetzung. Zwar fehlt hier draußen am sonnigen Nachmittag die Magie des gestrigen Abends im Michel, Freverts Songs kann man aber nicht oft genug hören und live erleben, wie zum Beispiel „Immer Noch Die Musik“: „Wenn die Sache dir zu nahe geht / Wenn dein Herz in Schutt und Asche liegt / Ist da immer noch, immer noch die Musik“. Da geht einem doch das Herz auf, denke ich mir glücklich, muss dann aber auch schon wieder weiterziehen.

Im Karostar Musikhaus St. Pauli spreche ich erneut mit Siri Keil und Jessica Schlage von NDR Blue Backstage, wir blicken auf die letzten Tage zurück. Ich berichte, dass ich in diesem Jahr Corona-bedingt ein „Normalsterblicher“ ohne bevorzugten Einlass gewesen bin und mir deswegen viele Konzerte entgangen sind. Trotzdem habe ich in den letzten Tagen gelungene Auftritte gesehen, wenn auch nicht so viele wie in den Vorjahren.

Der Downer des Tages

Meine größte Enttäuschung an diesem Tag: Bei Erregung Öffentlicher Erregung gibt’s kein Reinkommen, ausgerechnet diese Band aus Berlin und Hamburg hatte ich unbedingt sehen wollen. Aber so ist es eben, trotz extra frühem Anstehen gibt es in diesem Jahr eben keine Garantie für einen Einlass. Das ist besonders schade für die Leute, die sich ein Tagesticket für den Sonnabend gekauft haben. 65 Euro sind das pro Ticket, mal abseits von dem Preis ist die Enttäuschung, sich auf eben dieses Konzert gefreut zu haben und dann von den Sicherheitsleuten abgewiesen zu werden, groß. Leider war das bei der diesjährigen Ausgabe kein Einzelfall.

Es geht weiter, es folgt ein Bummel durch das Karoviertel, anschließend geht es wieder vorbei am Heiligengeistfeld. Auch hier läuft sie wieder, die Parallelveranstaltung „Wir-gucken-einfach-über-den-Zaun 2020“, und sie entwickelt sich prächtig. Vom Grashügel an der Glacischaussee hat man sogar einen ganz guten Blick auf die Festival Village Stage, als Talco aus Italien spielen.

Der Abend neigt sich dem Ende – was will man noch sehen?

Ein letztes Mal werden die Optionen geprüft, was man jetzt tun könnte. Noch einmal über die Reeperbahn schlendern, Kiez-Luft schnuppern, vielleicht noch irgendwo neue Musik entdecken? Einerseits hat das bei mir Tradition, andererseits kommt man seit gestern ja nirgendwo mehr so richtig rein, die Enttäuschung will man sich dann jetzt auch nicht am letzten Abend nochmal geben. Zweitens ist das in diesem Jahr ein anderes Schnuppern. Normalerweise treffen auf St. Pauli Touristen, Kegelclubs und das normale Partyvolk auf glückliche Musikfans. Dieses Flair ist nicht da oder zumindest nicht so stark wie in den letzten Jahren, 2020 macht das leider nicht so richtig möglich.

Das Finale: Die Sterne im Michel

Es wird die sichere, vielleicht auch etwas entspanntere Variante für den heutigen Abend, und damit wieder der Michel und erneut Die Sterne. Hier sind wir rechtzeitig und schaffen es auch in die schönste Konzertlocation des Reeperbahn Festivals. Normalerweise versuche ich Wiederholungen zu vermeiden, aber Michel-Konzerte sind eben etwas ganz Besonderes. Außerdem bin ich gespannt, wie ein Auftritt von Die Sterne hier werden wird. Wir hören kurz vor Beginn noch ein letztes Mal von einer Angestellten der St. Michaelis Kirche die Ansage: „Bitte nicht stampfen und rhythmisch klatschen, das wurde beim Bau dieses Gebäudes damals nicht mit eingeplant.“

Von wegen leise und reduziert

Diese Bitte scheinen Die Sterne nicht so richtig mitbekommen zu haben. Als sie loslegen, ist im Gegensatz zu allen anderen Michel-Konzerten der letzten Tage nichts von „reduziert“ oder „leise“ zu merken. Schon der erste Song „Der Palast Ist Leer“ ballert furchteinflößend laut durch den Michel, ein Wunder, dass hier nichts einstürzt oder zusammenbricht. Insgesamt klingt das eigentlich wie ein normales Die Sterne-Konzert, nur eben mit sehr viel Hall.

Und vielleicht macht das auch den Reiz dieses tollen Auftritts aus: Die Band um Frank Spilker freut sich über die Kulisse, die Rolle als Quasi-Headliner, und vor allem darüber, hier nochmal ordentlich Krach zu machen. Die verzerrte Gitarre bei „Hey Dealer“, aber auch der Trotz, mit dem Songs wie „Ich Muss Gar Nix“ oder „Fick das System“ (Leute, wir sind in einer Kirche!) rausgespuckt werden, das ist beeindruckend. „Was hat Dich Bloß So Ruiniert“ ist in meiner Jugend in jeder Indie-Disco mindestens einmal pro Abend gelaufen, dass bei dieser Hymne jetzt Leute hier in einer Kirche mitsingen, das ist fantastisch. Das Konzert ist ein würdiger, toller, schräger Abschluss eines denkwürdigen Festivals. Ein letztes Mal wird die Maske wieder aufgesetzt, ausgecheckt und nach Hause gefahren. Es bleibt das Sinnieren darüber: Was hat dieses Festival gebracht?

Eine Veranstaltung mit Signalwirkung – War das RBF 2020 eine?

Es war schön, wieder Konzerte zu erleben, aufregend, Clubs von innen zu sehen. Die Zuschauer waren glücklich, wieder Bands zu sehen und Musik live zu hören. Das Festival Village, die Festival Village Stage, ganz besonders der Michel, das waren die Flächen und Orte, wo Konzerte mit einigermaßen großen Personenzahlen funktioniert haben, ohne dass allzu viele Leute draußen enttäuscht abgewiesen wurden. Tatsächlich hatten die Clubkonzerte mit wenigen zugelassenen Besuchern auch ihren Reiz, selten habe ich so entspannte Konzerte im Molotow oder Uebel & Gefährlich erlebt.

Hinzukommt: Ich habe nicht ein Mal mitbekommen, dass sich jemand über das Tragen einer Maske aufgeregt oder mutwillig gegen Corona-Regeln verstoßen hat. Während der Konzerte und in den Warteschlangen habe ich mich auch stets sicher gefühlt, dafür hat das Festival-Team gesorgt. Das ist das Positive. Auch zu lesen hier: https://www.ndr.de/kultur/musik/Reeperbahn-Festival-2020-Die-Corona-Beschraenkungen,reeperbahnfestival2142.html